Edit 10.04.09: der Beitrag hat erfreulicherweise schon nach kurzer Zeit eine Diskussion entstehen lassen. Besonders der ausführliche Kommentar von Fotis Jannidis differenziert das Bild der Computerphilologie als Fachbereich in Deutschland deutlich, bestätigt mich allerdings in meinem Eindruck, dass der ‚umbrella term‘ Digitale Geisteswissenschaften in Deutschland noch wenig Verwendung findet.
Nicht erst seit Twitter und dem iPhone ist es ein ziemlich verlässlicher Zustand, dass Internet-Trends aus dem angelsächsischen Sprachraum irgendwann auch bei uns ankommen. Auch in der wissenschaftlichen Kommunikation sind Ideen aus den USA, Kanada und Großbritannien normalerweise beliebt, wenn sich auch die Wissenschafts- und Bibliothekswelt hier insgesamt vielleicht ein wenig skeptischer gegenüber neuen Gadgets gibt, als dies auf der anderen Seite von Kanal und Atlantik der Fall ist.
Verwunderlich ist allerdings, dass ein bestimmter Wissenschaftstrend von drüben nicht so recht Fuß bei uns fassen will: Digital Humanities Computing. Digitale Geisteswissenschaften sind die Symbiose von Informatik und (mehr oder weniger) klassischen Humanities-Disziplinen wie Literatur- und Sprachwissenschaft, Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte. Durch den Einsatz computergestützter Methoden soll einerseits der Zugang zum Untersuchungsgegenstand – Artefakten menschlicher Kultur, wie z.B. literarischen Texten, Kunstwerken, historischen Dokumenten – verbreitert und demokratisiert werden, und zum anderen eine neue wissenschaftliche Perspektive entstehen. Ein simples und spielerisches, aber durchaus anschauliches Beispiel ist diese Visualisierung der frequentesten Begriffe in Shakespeares Kaufmann von Venedig in einer ‚word cloud‘, erstellt mit dem Statistiktool Many Eyes.

Verfahren aus der Computerlinguistik, wie z.B. Text Mining, sind typisch für die Digital Humanities (DH). Die Methodik ist explorativ – der Untersuchungsgegenstand wird gehandhabt wie eine beliebige Datenmasse, ganz ohne Scheu vor dem Kunstwerk. Ob auch dieser ‚technokratische‘ Ansatz eine gewissen Mitschuld daran trägt, dass solche Methoden in Deutschland noch relativ wenig gebräuchlich ist, das sei dahingestellt. Es gibt zwar auch hierzulande Studiengänge zur Computerphilologie, aber diese sind im Selbstverständnis deutlich technisch und computerlinguistisch geprägt und scheinen die Mainstream-Geisteswissenschaften theoretisch und methodisch nahezu vollständig auszuklammern.
Insbesondere in den USA hat das Konzept hingegen bereits eine verhältnismäßig lange und (so scheint es mir jedenfalls) integrativere Geschichte. So wurde schon 1992 an der University of Virginia das Institute for the Advancement of Technology in the Humanities gegründet. Mehrere Fachverbände betreiben gemeinsam digitalhumanities.org, wo unter anderem der Companion to the Digital Humanities als Open Access-Publikation lebt, quasi das Gründungsdokument der Bewegung, und in diesem Jahr wird in Maryland die neunte Digital Humanities Conference ausgerichtet. Auch die Liste der DH-Einrichtungen weltweit wächst stetig, mit besonders vielen Gründungen in Nordamerika.
Die vermutlich grösste DH-Initiative, in deren Rahmen sich über 400 Wissenschaftler dort mit dem Thema beschäftigen, ist das umfassend von der Mellon Foundation geförderte Project Bamboo. In dem ‚Grasswurzel‘-Projekt sollen Geisteswissenschaftler, Softwareentwickler, Bibliothekare und IT-Experten gemeinsam Lösungen und Werkzeuge für den Einsatz in der geisteswissenschaftlichen Forschung planen und konzipieren – ein ambitioniertes und organisatorisch auch ziemlich kompliziertes Unterfangen, welches geleitet ist von dem Gedanken der Community-Beteiligung:
Bamboo is a multi-institutional, interdisciplinary, and inter-organizational effort that brings together researchers in arts and humanities, computer scientists, information scientists, librarians, and campus information technologists to tackle the question:
How can we advance arts and humanities research through the development of shared technology services?
In mancherlei Hinsicht ähnliche Bemühungen gibt es auch auf europäischer Ebene, aber mit einem anderen Schwerpunkt. So wurde zum Beispiel 2005 das Projekt DARIAH (Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities) initiiert, welches auf deutscher Seite unter anderem von der Max Planck Digital Library getragen wird.
Aber im direkten Vergleich mit Bamboo werden die unterschiedlichen Zielsetzungen der beiden Initiativen schnell deutlich.
DARIAH:
DARIAH’s mission is to facilitate long-term access to, and use of all European arts and humanities data for the purposes of research. DARIAH is the digital research infrastructure that will connect scholarly data archives and repositories with cultural heritage for the arts and humanities across Europe, making scattered resources accessible through one click.
Während Bamboo als Ausgangspunkt also die Frage hat, durch welche Werkzeuge und Methoden geisteswisseschaftliche Forschung neue Forschungsfelder erschließen kann, und diese Frage gemeinsam mit den Wissenschaftlern zu beantworten versucht, konzentriert sich DARIAH auf den Zugang zu digitalen Informationen – ein wichtiges Unterfangen, aber eines, welches die Forschung selbst weitgehend unberührt lässt. Die an DARIAH beteiligten Partner haben eine starke technische Orientierung und der Begriff „Infrastruktur“ wird häufig verwendet. Auch bei interessanten Programmen wie TextGrid stehen technische Aspekte relativ deutlich im Vordergrund:
Es gibt [..] ein großes Entwicklungspotenzial für die Schaffung integrierter Instrumente, die sowohl die spezifischen Anforderungen der Textwissenschaften in den Bereichen der philologischen Bearbeitung, Analyse, Annotation, Edition und Publikation erfüllen als auch den Transfer von e-Science-Methoden netzbasierten Arbeitens in die Geisteswissenschaften ermöglichen.
Bei der Teilnehme an einem von der DFG organisierten Roundtable zu Methoden in der anglistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft im letzten Monat wurde aber für mich sehr klar erkennbar, dass der Transfer von e-Science-Methoden netzbasierten Arbeitens in die Geisteswissenschaften kein technisches, sondern vielmehr ein kulturelles und wissenschaftssoziologisches Problem darstellt. Und Analyse, Annotation, Edition und Publikation sind zwar für Linguisten und Editionswissenschaftler mitunter interessant, für das Gros der Geisteswissenschaftler in Deutschland aber wohl eher (noch) nicht. Das macht TextGrid auf keinen Fall weniger bedeutsam, sondern verdeutlicht höchstens, dass in Deutschland bisher eher wissenschaftliche Nischenbereiche ‚digitalisiert‘ werden, und nicht unbedingt das ganze breite Spektrum der Geisteswissenschaften. Aber was nicht ist, kann ja durchaus irgendwann werden – vielleicht noch schneller und mit noch besserem Ergebnis, wenn man die Fachwissenschaftler ähnlich wie in den USA stärker in den Entwicklungsprozess einbezieht.
Gerade das offensichtliche Interesse von Fördereinrichtungen an dem Themenkomplex DH sollte jedenfalls auch Wissenschaftler in Deutschland aufhorchen lassen. So hat das National Endowment for the Humanities (NEH) seit kurzem ein festes Office of Digital Humanities – eine Einrichtung, die der DFG zumindest im Moment noch fehlt. Aber auch die DFG hat ihr Interesse am Thema schon deutlich signalisiert, unter anderem mit dieser Ausschreibung im letzten Jahr.
Wann (und wo) wird in Deutschland der erste Lehrstuhl für digitale Literaturwissenschaft ausgeschrieben? Wann wird das erste Institut für Digitale Geschichtswissenschaften eröffnet? Eine interdisziplinäre Forschungseinrichtung wäre mir ja persönlich am liebsten. Wer weiß, vielleicht kommt man ja so auch schneller zur viel beschworenen Exzellenz…